123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103104105106107108109110111112113114115116117118119120121122123124125126127128129130131132133134135136137138139140141142143144145146147148149150151152153154155156157158159160161162163164165166167168169170171172173174175176177178179180181182183184185186187188189190191192193194195196197198199200201202203204205206207208209210211212213214215216217218219220221222223224225226227228229230231232233234235236237238239240241242243244245246247248249250251252253254255256257258259260261262263264265266267268269270271272273274275276277278279280281282283284285286287288289290291292293294295296297298299300301302303304305306307308309310311312313314315316317318319320321322323324325326327328329330331332333334335336337338339340341342343344345346347348349350351352353354355356357358359360361362363364365366367368369370371372373374375376377378379380381382383384385386387388389390391392393394395396397398399400401402403404405406407408409410411412413414415416417418419420421422423424425426427428429430431432433434435436437438439440441442443444445446447448449450451452453454455456457458459460461462463464465466467468469470471472473474475476477478479480481482483484485486487488489490491492493494495496497498499500501502503504505506507508509510511512513514515516517518519520521522523524525526527528529530531532533534535536537538539540541542543544545546547548549550551552553554555556557558559560561562563564565566567568 |
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- <title> nadir </title>
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- <!-- author:MT, written in 2007/8 -->
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- <br/>
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- <a href="../writings.html">writings</a>
- <br/>
- <br/>
-
-
- <h1> Nadir</h1>
- <p>
- <h2>Erste Zweifel</h2>
- Ich kann nicht sagen, wer mich erzählt.
- Ich kann es nicht sein, denn ich habe keine Wörter.
- Oder ich habe sie noch, die Wörter.
- Und es hat mir nur die Sprache verschlagen.
- </p>
- <p>
- Und schon hier (=quasi im Vorfeld) würde ich mich, im Vergleich mit den gediegenen Baumeistern der verschlungensten Welten, maßlos überheben. Denn es ist ein Unterschied, und kein kleiner, keine Wörter zu haben oder keine Sprache zu haben. <br/>
- Ich kann aber nicht mit Sicherheit sagen, ob ich nicht bloß keine Sprache, wohl aber noch Wörter habe.
- </p>
- <p>
- Laute tauchen auf. Sie lallen ungefragt in meinem Schädel. Ich murmele eine Zeit lang auf ihnen herum, spucke sie dann eilig aus und sie verschwinden wieder in dem Schlund, dem sie entschlichen sind. Wie bei jedem anderen Höhlenbewohner auch, der bloße Schatten vom Hörensagen kennt. Und sein eigen zu nennen glaubt. Nur ich, auf der anderen Seite, weiß noch gar nicht, was ich von ihnen, den dicht gedrängten Zeichen und losen Sprüchen, zu halten habe: <br/>
- <br/>
- Es kann sein, dass sie in Verbindung mit den Dingen stehen, die ich auf meinen kurzen Ausflügen durch Raum und Zeit, wie man so sagt, antreffe. Dann habe ich Wörter, welche die Dinge in ihrem Kern treffen, und die Ungereimtheiten ergeben sich erst in einer höheren Ordnung der Dinge (Also der Sprache, aber ich will mich nicht ständig wiederholen).
- <br/> <br/>
- Es kann aber mit der gleichen Wahrscheinlichkeit sein, dass ich mich ganz ohne Grund an vereinzelte Wörter erinnere. Aus dem Nichts heraus, wie man so sagt. Sie stehen in ganz und gar keinem Zusammenhang mit der Gegenwart der seienden Dinge.
- <br/>
- <p>
- Dann, und ich nehme an, dass es so ist, steckt der Karren bis zum Kutschersitz im Dreck. Mit Wörtern und Gegenständen, die in keinem direkten Zusammenhang stehen, lässt sich nicht einmal ein einfacher Befehl an mich delegieren. Zum Beispiel: „Ball!“ würde heißen, dass ich den Ball apportieren soll. Nicht aber, um ein Beispiel zu geben, einen Stock. Oder was mir sonst gerade für Flausen und Fetzen durch die flüchtig=rastlosen Sinne gehen.
- Im ersteren Falle, also gewissermaßen anders herum, wäre ich durchaus für anspruchslose Strapazen noch zu gebrauchen. Man müsste mir eine entsprechende Dressur zuteil werden lassen, und ich würde spuren wie ein abgehalftertes Rennpferd.
- </p>
- <p>
- Die verlorene Sache mit der Verständigung wäre für mich sicherlich einfacher, wenn die Gegenstände einen gleich bleibenden Nutzen für mich hätten. Ich könnte ihren Gebrauch beschreiben, und es wäre schon einiges gesagt: Ein Gegenstand, in den ich etwas fülle und aus dem ich trinke.
- </p>
- Ein erster Anfang wäre so gemacht. Denke ich.
- <p>
- Aber so einfach ist es nicht (Und ich will es mir nicht so einfach wie möglich machen. Nicht, dass ich Angst haben würde, jemand würde mich dafür zur Rechenschaft ziehen. Aber ein wenig Reminiszenz an die Redlichkeit verlange ich in diesen Dingen auch von mir). <br/>
- Denn ich benutze kaum etwas von den zahllosen Fundstücken und Kostbarkeiten, die mir im Wege liegen, zahlreich wie die Kiesel auf dem Grund der Meerenge von Gibraltar. An den meisten ziehe ich vorüber, ohne ihnen auch nur meine Beachtung zu schenken (Ich würde sonst, wenn ich das kurz anmerken darf, auch noch weniger, oder vielmehr gar nicht mehr von der Stelle kommen). <br/>
- Nur wenige davon nehme ich in die Hand, um sie eingehend zu untersuchen. Und nur vereinzelt versuche ich etwas mit ihnen anzufangen. Und so selten, dass ich nicht sagen kann, ob ich es schon einmal so, auf die gleiche oder eine ähnliche Weise, gemacht habe. Und nicht selten kommt auch gar nichts dabei heraus. Ich lasse es dann sein, und ziehe weiter meine Bahn. Ohne je etwas zu verstehen
- </p>
-
- <p>
- Ein gute Portion meiner Probleme, und ich vermute nicht die kleinere, liegt also in einer eher technischen Frage: Meine Kenntnisse und Fähigkeiten reichen zu einer bestimmten Begrifflichkeit schlichtweg nicht aus. Mein verschwindender Ausdruck an menschenmöglichem Verhalten erfordert keine ausgefeilten Bewegungen mit dem Zungenlappen: also bestimmende Begriffe.
- </p>
- <p>
- Ich wüsste auch gar nicht… und das ist ein weiterer Aspekt der Angelegenheit… wem überhaupt ich etwas erzählen sollte.
- Ich bin alleine in diesem Raum, es kommt niemand, außer meinem Besucher. Er scheint mich aber bereits ausreichend zu kennen, denn er fragt nicht nach mir.
- </p>
- <p>
- Nie.
- </p>
- <p>
- Er spricht und ich höre ihm zu. Wenn er mir eine Frage stellt… ich merke es an einer Pause, die er gekonnt seinen verbalterrosistischen Salven folgen lässt… stimme ich ihm zu.
- </p>
- <p>
- Immer.
- </p>
- <p>
- Ein ungenaues Murmeln von mir, ein fossiles Mantschen in meiner immerfeuchten Maultasche, reicht ihm, um sich seiner Sache anständig=ausreichend versichert zu haben. Er hat mir seiner Meinung nach die Möglichkeit gegeben, meine Meinung zu äußern, und die Sache ist erledigt. Wir sind… nach gewissen und weithin verbreiteten Maßstäben und Verträgen… ein gut eingespieltes Team.
- </p>
- <p>
- Sonst, also über ihn hinaus, weiß ich nichts von den Menschen und ihren Interessen. Es werden wohl die gleichen Menschen und die gleichen Interessen sein wie damals, aber ich kann mich nicht mehr an „die glücklichen Tage“ erinnern. Wahrscheinlich hatte ich auch vor dem Morgengrauen meiner Zeit noch keine große Ahnung von dem letzten Schrei der großen Meute. </p>
- Weil ich auch da nicht mit genügend Wissensdurst bei der Sache habe sein wollen.
- <p>
- Vermutlich.
- </p>
- <p>
- (Ich weiß natürlich nichts von meinem Besucher, also kann ich auch nichts über irgendetwas hinaus wissen. Die Tage waren natürlich nicht glücklich. Von einem damals zu sprechen ist natürlich sinnlos.
- Wer, frage ich mich, wollte mir einen Strick aus solch belanglosen Redensarten drehen?)
- </p>
- <h2>Zweitens</h2>
- <p>
- Bin ich schon lange hier? Wann ist meine Zeit angebrochen? Ich weiß es nicht. Es spielt auch keine Rolle mehr. Ich bin hier, an diesem Ort, und seitdem ist immer jetzt: Ich vergesse jeden Augenblick, sofort, und ich warte auf nichts, das noch kommen wird. <br/>
- Nach und nach bin ich hier aufgetaucht, mit zeitlosen Unterbrechungen. Dann bin ich geblieben.
- </p>
- <p>
- Für immer.
- </p>
- <p>
- Ich habe mich eingerichtet. Seitdem es ist mein Zuhause, meine Zuflucht, meine letzte Rettung. Da besteht keine Frage.
- </p>
- <p>
- Ich kann den Raum in seinem ganzen Ausmaß nicht überblicken. Demnach muss er größer …und zwar reichlich größer… als ein gewöhnliches Zimmer sein.
- </p>
- <p>
- Auch habe ich noch nie in einem einzigen Streifzug zweimal ein Ende der Ausdehnung, zum Beispiel in Form einer Wand erreicht. Denn von Zeit zu Zeit stoße ich auf eine Demarkation. Es ist zumindest eine Art Wand, mit blankem Putz und einem muffigen Geruch, der mich sofort in die Flucht schlägt. Aber während des Manövers… weg von dem Gestank… treffe ich nicht ein zweites Mal auf etwas Ähnliches. Noch bevor ich wieder in meinem Schwung von einer zweiten Wand gebremst werden kann, mache ich wie gerädert schlapp.
- </p>
- <p>
- Auch treffe ich während einer Tortour… und für mich ist der Terror der Bewegung wahrlich eine Tortour… auf einen der zahlreichen Gegenstände ein zweites Mal. <br/> Zum Beispiel auf halber Strecke. <br/>
- Wer will wissen, wie es dann um mich bestellt wäre. Ich könnte dann, also wenn sich etwas wiederholen würde, Angaben, wenn auch nur in Relation zu meinen Möglichkeiten, über die Größe des Refugiums machen: Der Raum ist von der Größe, die einem Lebewesen meiner Art und meiner Fähigkeiten ermöglicht, ihn in zwei Märschen zu durchqueren. Wie lang genau die Märsche sind und welche Pausen nötig sind, um sich von der Strapaze wieder zu berappeln, blieben unbekannte Größen, die nicht unerheblich wären. Aber ein erster Anfang wäre so gemacht. <br/>Es wäre schon etwas gewonnen. <br/>
- Ich könnte Berechnungen anstellen, ich könnte Aufzeichnungen machen, Vergleiche ziehen, kurz: Ich hätte eine Beschäftigung. Und… um das Geschäft abzurunden… noch eine von Interesse für Forschung und Lehre. Ich könnte der Wissenschaft und dem Fortschritt einen Dienst erweisen.
- </p>
- <p>
- Aber das sind bloße Spekulationen. Und sie führen in die Leere. <br/> <br/>
- Immer.
- <p/>
- <p>
- Ich wiederhole mich nicht gerne, auch wenn ich es nicht vermeiden kann, aber ich kann mich an nichts erinnern. Wer will also wissen, wann mich das letzte Mal ein entsetzlicher Gestank von sich zurückgeworfen hat. <br/>
- Denkbar wäre selbstverständlich auch, dass ich mir den schauderhaften Gestank und das ganze Drumherum nur zusammenreime (im Schlaf und allem, was sich damit vergleichen lässt, bahnen sich die Winde, unbehelligt vom Willen, ihre eigene Bahn. Sie können gut und gerne die weltliche Ursache für meine schrägen Ansichten sein).
- </p>
- <p>
- Hinzu kommt noch, dass es um mich nicht gut bestellt ist. Eventuell …um nicht ständig vielleicht zu sagen… ist der Raum kaum größer als eine Abstellkammer. Es ist alles eine Frage der Perspektive und der Messgeräte, die man anzulegen gewöhnt ist. Meine Augen sind schlecht und ich komme auch kaum noch voran. Selbst ein kleiner Raum würde mir unter solchen Bedingungen groß erscheinen.
- </p>
- <p>
- Ich will mich nicht endgültig in dieser Frage festlegen, aber um die Ausgangslage einfach zu halten bleibe ich bei meiner ersten Ansicht: Der Raum ist riesig, es muss sich mit Sicherheit um eine ausrangierte Lagerhalle handeln. Vielleicht auch um ein ehemaliges Großraumbüro, mit emsigen Mitarbeitern, die laut Direktive ihre Anfragen in alle Himmelsrichtungen zu senden haben: Kurse, die stetig steigen und fallen, werden ausgekundschaftet, Angebote von ausgefeilten Hightech-Geräten wollen auf dem Weltmarkt angepriesen werden, Entscheidungen von großer Tragweite für die Völker der Erde werden über den Äther gesendet. Und so weiter. Eine Vergangenheit mit Glanz und Gloria, man hätte darauf bauen können und sollen.
- </p>
- <p>
- Ich will mich nicht selber unter den Scheffel stellen, aber etwas mehr Respekt hätte man einem Unternehmen von weltweiter Bedeutung schon zollen können, als seine verbliebenen Mauern ohne Bedenken einem wurzellos Irrenden zu überlassen. Ich hätte mich, vermutlich, an jedem anderen Ort auch nicht schlechter eingewöhnt. Über kurz oder lang hätte ich mich damit arrangieren können. Und mich gewiss auch dort nicht beklagt. Womit hätte ich es auch vergleichen sollen.
- </p>
- <h2>Drittens</h2>
- <p>
- Meine böse Ahnung über den glanzlosen Untergang eines traditionsreichen Betriebes wird durch gewisse bauliche Maßnahmen noch untermauert. Denn in unregelmäßigen Abständen stoße ich auf eine Wand, die mich nicht sofort durch ihren maßlosen Gestank wieder in die Flucht schlägt. Im Gegenteil, die Luft ist hier frisch und angenehm, zumindest scheint es mir so. Eine delikate Differenz, die sich, wie gesagt, vielleicht gar nicht wahrnehmen lässt. Und schon gar nicht von meinen verstopften Atemwegen, die von den verdichteten Bronchien oft und gerne zugeschleimt gehalten werden. Trotzdem wird die versteinerte Kohle meiner Lebenskräfte durch die Neugierde nach der ungenauen Witterung wieder zu einer Glut entfacht. Ich sammele meinen Mut zusammen und kämpfe mich mit eisernem Willen an einem Stuhl hoch, um der Fährte zu folgen. Nachdem ich den Tisch erklommen habe, ruhe ich mich in meiner gewöhnlichen Körperhaltung, dem Kauern, kurz aus. Anstatt aber in meine Art von Schlaf zu fallen, was ich nach dem Kraftakt doch erwarten würde, stelle ich mich nach wenigen Sekunden aufrecht hin. Ich muss mich dafür an der Wand hochrobben, ich will das nicht schönreden. Aber auch ohne Glanzleistung in der B-Note stehe ich zu guter letzt aufrecht, was so oder so bemerkenswerte Leistung darstellt. „Jeder nach seinen Fähigkeiten“. Das wäre mir eine schöne Devise, wenn ich dafür einmal einen Bedarf haben sollte.
- <br/>
- Ob es sich tatsächlich um einen Stuhl und einen Tisch handelt, womit ich das äußerst heikle Manöver zu einem leidlichen Abschluss zu bringen in Stand gesetzt werde, ist in diesem Fall für mich von geringer Bedeutung. Die beiden Gegenstände, die ich in ungesicherter Absicht für einen Stuhl und einen Tisch ausgebe, gestatten mir einen Ausblick, der mir das Flicken an Fragen über das genaue Wesen von dem ganzen Zeug vergehen lässt:
- </p>
- <p>
- Denn die Aussicht ist hier frei, der Blick erhoben.
- <br/>
- Ich erschrecke davon und muss mich sofort an dem knappen Vorsprung unter dem Oberlicht mit meinen beiden Händen festhalten, um nicht gleich wieder in meine vergebliche Diaspora zurückzufallen. Mit abgeschlossenen Augen versuche ich vor der sonderbaren Spiegelung wieder zu mir zu kommen. Wie man so sagt: „wieder zu sich kommen“, und was immer das im Detail bei einem wie mir heißen mag.
- <br/>
- Ich würge den ersten Schreck wie wild entschlossen ab, öffne die Augen einen Schlitz weit auf und versuche mich hinter meinen verschwitzten Haaren zu verstecken.
- <br/>
- Dann kapituliere ich und lasse mich vom salbungsvollen Sein der unvermittelten Welt aufsaugen und vom Augenblick inspirieren. Also, um weniger blumig zu sprechen, mit den brutalen Tatsachen der näheren Umgebung des Gebäudes. Das zuständige Vokabular der Naturbetrachtung ist von Grund auf verdorben worden, und auch ich muss auf der Hut sein: Fast hätte ich die stereotype Phrase vom Schwelen einer geschlagenen Lichtung mitzublöken begonnen.
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- Von meinem Aussichtspunkt bis zu bis zu den Fassaden der Gebäude, den anhängenden Strassen und spärlichen Be-pflanzungen ist die Entfernung alles andere als klein. Trotzdem kann ich ohne erkennbaren Grund alles sehen. Selbst die unterschiedenen Bestandteile des Ganzen, und hiervon noch die feinen Nuancen, scheine ich klar und deutlich in eine vernünftige Beziehung miteinander setzen zu können: angeblich in mir selber als dem Schoß der beträchtlichen Verbindung. Obwohl mir das gerade Gegenwärtige, das mir in meiner Residenz direkt vor Augen liegt, in tiefem Dunkel bleibt. In meinem Unterschlupf bin ich kurzsichtig wie ein Maulwurf, ich habe das bereits erwähnt. Über der Erde dagegen, beim Tageslicht der trügerischen Wirklichkeit, scheint die logische Bestie in mir durchzubrechen: Ein weiter Wurf für die Wahrnehmung, das große Ganze, macht mir keine Mühe: Die „Einheit der Apperzeption“ wurde dafür als oktavgleiche Formel in den Lehranstalten vorgeschlagen. Was für ein wahrlich erhabener Begriff für Wesen meines Schlages.
- <br/>
- Falls ich nicht von Grund auf falsch liege, mir den ganzen Heckmeck bei den letzten Hinterwäldlern nur erstohlen habe und draußen vor der Tür die verwitterten Träume von absterbenden Geistern zu sehen bekomme. Was vermutlich der Fall ist.
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- <p>
- Von meinen kurzen Lichtblicken hinter dem Luftloch am Fenster erzähle ich nie. Weder den abwesenden Gästen noch meinem Besucher und Versorger. Er hätte zwar ein verständliches Recht darauf zu erfahren, womit ich mir die Zeit vertreibe, da er mich am Sterben hindert. Ich kann mich ihm aber nicht aus dem Stand und Stehgreif heraus erklären. Und noch bevor ich zum Zuge zu kommen drohe, hat er schon die Zügel in die Hand genommen.
- <br/>
- Nicht einmal ich selbst denke weiter daran. Oder, wenn etwas Zeit vergangen ist, wieder daran zurück, als eine tröstliche Erinnerung. Zum Beispiel sobald ich in meine Kammer zurückgesetzt worden bin. Oder zu einem beliebig anderen Zeitpunkt, also später.
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- <p>
- Ich finde mich schlicht und einfach an einem anderen Ort meiner Zufluchtsstätte wieder, ermattet und schlaff. Warte weiter auf das Ende der wiederholten Erneuerung und ewigen Wiederkehr meiner wenigen Empfindungen.
- <br/>
- Natürlich warte ich auch nicht im eigentlichen Sinne. Die Zeit hat ihr: „Es war“, und damit sollte es gut sein. Ich warte also weder auf eine Wiederholung der Szene am Oberlicht, wenn es ein Oberlicht ist, noch auf sonst Etwas. Es reicht bei Weitem nicht mehr für den Akt, auf ein Ende oder eben einen Anfang zu hoffen.
- <br/>
- Und natürlich ist es auch fraglich, ob das tatsächlich Empfindungen sind:
- <br/>
- die kurzen Schauer der Erfahrung, die mich ein wenig schütteln. Vielleicht sind es bloße Schlupflöcher der Wirklichkeit, die mich in Schach halten, als einen grausigen Akt der Rache. Wer will entscheiden, worum es sich bei diesen Vorgängen de facto handelt:
- <br/>
- Traum, Wahn oder Wirklichkeit? (Aber schuldig gemacht haben muss ich mich in jedem Fall: eine seltsame Art von Sünde;
- ein schweres Vergehen: an einem Auftrag, der nur für mich in Frage gekommen wäre und den ich unterlassen habe; eine Beschädigung an der guten Gesinnung und am Wohl der Gemeinde; vielleicht auch einfach ein gefährlicher Zusatz, in geschmierter Tinte hinter ein geheiligt keusches Postulat geworfen. Ohne mir gespiegelte Gedanken darüber zu machen … ich kann, wie gesagt: mit keinen Wörtern, nichts Konkretes dazu sagen. Eine dunkle Ahnung, die mich in meinen Därmen quält, mehr habe ich nicht. Ein durch und durch unbestimmtes Etwas, und ich hätte nichts dagegen, wenn das Nichts ihm nach und nach den Rang ablaufen würde. Nicht, dass ich mich mit meinen Gefühlen allzu sehr darauf einzulassen wollte. Dann aber würde ich, unter Umständen, die Plätze gerne tauschen.
- </p>
-
- <h2>Viertens</h2>
- <p>
- An der Staffage, die in die Szenerie gesetzt worden ist, hat es mir besonders das Wasser angetan. Es liegt weit hinter den lückenlos in ihren Koordinaten geregelten Kreisen der menschlichen Wirkung Rastlos und verlassen.
- <br/>
- Meine Sinne versagen mir freilich die Gefälligkeit, etwas Genaues über den Ort dort zu verraten. Aber hier, aufgrund der unglaublichen Entfernung, und also aus einem anderen Grund als der gewöhnliche. Ich muss mich also… da ich nicht wirklich mehr als eine Ahnung habe… damit zufrieden geben, dass es eine Art von Gewässer ist (Wenn es das Meer wäre oder die See, müsste mich die Luft selig schlafen lassen. Und ich schlafe nie. Wenn es eine Kiesgrube wäre, ließen die Container am Ufer sich nicht erklären. Also muss es notwendig ein Fluss sein? Zu solchen wüsten Gedankenspielen lasse ich mich lieber nicht hinreißen. An so etwas sind schon andere Kaliber gescheitert, und ich bin gewiss kein Ass in geistigen Fragen. Nicht nur das, ich will nicht untertreiben: Ich bin regelrecht mit Stroh im Kopf ausgestattet, und folglich kann es für mich nicht mehr sein, als ein Wasser. Ohne ein bestimmendes Ufer: still, unstet und heimatlos.
- Das Land, zu welchem die Seefahrer den Weg nicht kennen, und welches die Könige mit ihrem Gold sich nicht kaufen können, werde ich, mit so spärlichen Angaben eingerichtet, nicht darauf erreichen. Falls ich es wollen würde).
- </p>
- <p>
- Überhaupt muss es sich um eine Art ausgelagertes Industriegebiet handeln.
- <br/>
- Die Kreuzungen sind ohne Ausnahme im rechten Winkel und die zweispurigen Straßen seltsam linear angelegt: Sie ergießen sich nicht in vernetzte Winkel und verlorene Gassen. Die geladenen Laster können ohne Umstände ihre Bahnen auf ihnen ziehen. Auch die Einfahrten zu den großen Höfen liegen samt und sonders direkt an der Straße. Keine der aufwendigen und beeindruckenden Manöver, welches die gelangweilte Masse der Vorstadt in Atem hält, ist nötig, damit die Fracht ihren Zielort erreicht. Ein stetes Kommen und Gehen, ohne dass ein Eindruck von Hektik den unbeteiligten Beobachter aus der Ruhe bringen würde.
- <br/>
- Dem vollkommenen Ablauf fehlt zu seiner vollendeten Perfektion nicht einmal die Spur einer schonungslosen Eleganz, die mich hinreißt. Auch wenn meine Ansprüche und Vorstellungen in dieser Hinsicht nicht als verbindlicher Maßstab dienen können.
- </p>
- <p>
- Von den Fahrern der Speditionen und dem ansässigen Personal, welches sich als Pulk auf den endlosen Laderampen verliert, einmal abgesehen, lässt sich niemand unter den frei- und fessellosen Himmeln blicken. Zu keiner Zeit des Jahres.
- </p>
- <p>
- Nirgendwo.
- </p>
- <p>
- Ist es vielleicht möglich, frage ich mich, …in einem nervösen Fieber, wenn ich die Zeit dazu finde, also äußerst selten …dass die Menschen sich doch noch selber den Garaus gemacht, dass sie sich mit Hilfe der Götter und ihrer sterbenden Gehilfen von der Erde getilgt haben? Dass nur ein paar eingefleischte Realisten mit niedrigem Bildungsniveau den Braten noch nicht gerochen haben, dass sie ihre heilige Pflicht noch immer weiter verfolgen? Dass sie sich gehorsam weiter daran halten, die Gebrauchsgüter eilig über die Länder der Erde zu verteilen, ohne die Frage nach dem Nutzen und Nachteil von irgendetwas stellen zu wollen? Noch immer nicht, auch nicht nach so vielen Generationen?
- <br/>
- Wieso sollte mir dann, wenn die Geschichte der Erde an ihr sauer verdientes Ende gekommen ist, mein Gast, der geschwätzige Genealoge und fröhliche Geist von naturwissenschaftlicher Forschung und formloser Lehre, noch nichts von den Neuigkeiten erzählt haben? Sonst ist er in jeder und auch in kulturkritischer Hinsicht immer auf dem Laufenden. Es fehlt ihm wahrlich nicht an Themen, um ein Gespräch in Gang zu halten.
- <br/>
- Oder er hat es mir längst erzählt, er spricht vielleicht von nichts anderem und versucht uns beide so zu retten. Aber ich höre ihm nicht aufmerksam genug zu. Ich versuche immer, ihm zuzuhören, ich setze eine wichtige und interessierte Mine dabei auf, aber nur selten glaube ich ihn zu verstehen. Und wenn ich es mir doch einmal zu glauben einbilde, ist es nicht mehr als die waghalsige Windung einer rostigen Schraube.
- <br/>
- Aber auch in seinem unbekümmerten Gesicht kann ich nichts von bedrohlichen Entwicklungen lesen.
- </p>
- <p>
- Ich will nicht mit verdeckten Karten spielen:
- <br/>
- Da ist noch eine Art Bar, die mit flammendem Leben gefüllt ist. Ich kann das bunte Treiben, wie man im durchzechten Alltag so sagt, beobachten. Ich muss dafür das Glück haben, dass mich das Schicksal bei angebrochener Dunkelheit an meinem Aussichtspunkt hat landen lassen. Der Horst und Schutz der nächtlichen Falken ist nach der täglichen Mühsal zum Bersten gefüllt. Immer. Die Zahl der Gäste kann ich mir unmöglich nur aus dem spärlichen Haufen, der sich bei Tageslicht blicken lässt, erklären.
- <br/>
- Auch lassen eindeutig verhängnisvolle Vorgänge im Hinterhof auf eine nicht geringe Anzahl an ewig weiblichen Wesen schließen, die die Horde um den Verstand und den Wirt um seine Nerven bringt. Die Menschen, wenn man sie noch so nennt, scheinen sich also nur bei Tag, wenn sie leicht zu entdecken sind, zu verkriechen, in den Abendstunden kommen sie aus ihren Verstecken und lassen es, wie sie so sagen, ordentlich krachen. Vermutlich nennen sie das ihr eigentliches Leben, die kurzen Stunden, in denen sie die Stille in sich ohne eine letzte Lücke alle Welt vergessenen machen.
- <br/>
- Ich habe aber weder Sinn für Geschmack noch für Geruch. Was die Vorgänge unten betrifft, bin ich folglich darauf angewiesen, mir das meiste davon auszumalen. An Unterhaltungswert stehen meine Beobachtungen bei Nacht denen am Tage deswegen aber in nichts nach. Von daher will ich mich nicht noch weiter in den Morast der hässlichen Blicke auf das Geschehen am Rande hinreißen lassen. Ich würde mich leichtsinnig um einen Teil meines eigenen und einzigen Vergnügens bringen.
- </p>
- <p>
- Ich will mich auch gar nicht weiter in diesem heillosen Spinnennetz aus ungelösten Rätseln verheddern, denn für mich hat die ganze Frage nach dem Fortbestand der Sterblichen keine weiteren, also schwerwiegenden Konsequenzen. Was es außerhalb der Falle, in die ich getappt bin, zu beobachten gibt, reicht hin, um mich für eine Weile auf andere Gedanken zu bringen. Mögen sie tot sein oder lebendig.
- </p>
- <p>
- Das veröffentlichte Leben scheint …für einen wie mich und aus der abgelebten Luke von Not und Langeweile betrachtet …trotz der flimmernden Funken, die mich und mein Urteil brechen, relativ berechenbar zu sein:
- <br/>
- Ein See, von dem ich nicht viel mehr sehen kann, als eine vage Andeutung, einige Gebäude, in denen die Zeit still zu stehen scheint und das verkümmerte Geschehen vom der Nacht. Von Bepflanzungen der Wege kann keine Rede sein: Vereinzelt reichen die paar mickrigen Bäumchen kaum hin, um von ihnen auch nur am Rande zu sprechen. Es sieht nicht einmal danach aus, als würde ihre Zeit noch auf sich warten lassen. Sie erfüllen ihren Zweck in dem Alibi einer Zukunft, auf die es sich zu hoffen lohnt und werden bei Gelegenheit wieder entfernt werden.
- <br/>
- Trotzdem finde ich in der Außenwelt und nicht in meinem voll gestellten Kasten, die Anhaltspunkte, um das chaotische Wirrwarr in eine vernünftige Beziehung zu mir zu zwingen. Als würde ich mich selber auf endliche Weise mit mir selber zusammenschließen, wieder, die Welt in Ruhe lassen und zu dem gewichtigen Grund der letzten Dinge gehen. Wäre ich nicht so schusselig, dass ich, kaum von meinem jämmerlichen Geschick am Fenster in die notwendigen Übel meiner wilden Behausung zurückgeworfen, meine zaghaften Betrachtungen schon wieder verloren hätte, ein erster Anfang wäre gewonnen. Um, zum Beispiel, doch noch zu meinem Ende zu kommen. So aber geht es an genau demselben Punkt der Erfahrung mit mir wieder von vorne los:
- </p>
- <h2>Fünftens </h2>
- <p>
- Zurück im Hier und jetzt (=also auf dem Fußboden) komme ich dann wieder zu mir. Um mich herum liegt das Zeugs, also Kram und Krempel aller Art, wieder wie nutzlos im Weg. Die Erinnerung an die klare Perspektive über den Dächern ist wie ausgestrichen. Als wäre es nie geschehen. Von daher kann ich selber, wie gesagt, auch kaum derjenige sein, der davon Bericht erstattet. Noch während ich zu Sinnen komme, nehme ich den erstbesten Gegenstand in die Hand und rapelle ungeduldig damit herum. Als ob ich ihn zu einer Stimme verlocken könnte, mit der er sich mir anvertraut: Nichts.
- Das Gurren einer Waldtaube könnte nicht fremder in meinen Ohren klingen, als das Geklapper der ausrangierten Attrappe von abgelebter Welt und Wirklichkeit, die ich dann gerade in die Hände bekommen habe. Schlagfertig lasse ich das Teil auf den Boden plumpsen und greife mir das nächste Stück vom Schein der Dinge. Auch damit ist es
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- <p>
- Nichts.
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- Weder von sich selber her noch im Vergleich miteinander kann ich etwas damit anfangen. Verständnislos hängt meine Unterlippe vornüber. Stumpf und blöde folge ich einsam dem vorher-bestimmten Weg. Ohne ihn verstehen zu können, ohne ein festes Ziel vor den Augen.
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- Sicher komme ich auch so voran.
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- Leidlich, könnte man sagen.
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- Ich mache das Beste aus meinen Fähigkeiten.
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- Niemand kann mir einen Vorwurf aus meinem Versagen machen.
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- Kurz bevor ich von dem sinnlosen Gescharre in meinem vergitterten Käfig schlappmache und wegsacke, muss ich das wiederkehrende Ritual wohl leid sein: Die Plörren werden mir zur Plage. Ich verliere das letzte Bisschen an Lust, sie wieder und wieder fallen zu lassen. Ich halte mich dann, wenn ich nicht sofort einschlafe, verbissen an einen Beliebigen davon fest, um den Bann meiner Natur aus eigenem Willen zu brechen. Ich wiege den Gegenstand, wenn er mir zu schwer in den Händen wird. Gedankenlos fange ich an, daran unbestimmt zu dengeln, um nicht die Nerven zu verlieren.
- <br/>
- Nicht oft, aber eben oft genug, um es zu erwähnen, ergibt sich daraus ein Nutzen. Ich weiß nicht, ob der Gegenstand, den ich gerade in meinem Besitz weiß, dafür gedacht und gemacht ist, sich, zum Beispiel, den Rücken damit zu schaben. Trotz dieser Ungewissheit bereiten mir diese wenigen Augenblicke in meinem einzigen und unauflöslichen Dasein ungemeine Freude, ja das Gefühl von Glück. „Nur wer sich der Gefahr stellt, wächst über sich und die seinen hinaus“, so tönt es mit Würde in meinem Innersten, wo mir die Autorität einer erhabenen Stimme begegnet.
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- In einem anderen und allgemeinen Sinn bin ich so, indem ich mich meiner Niederlage restlos unterworfen habe, in meinem Anderen zu mir selber geworden. Dieser aparteste und eigentliche Zustand des Menschen, der mir nur selten wie eine Gnade und ein Geschenk in den Kopf gesetzt wird, dauert natürlich nie lange an.
- <br/>
- Von den Eindrücken überwältigt mache ich nach kurzer Zeit wie gehabt schlapp und sacke in meine Art von Schlaf: Das kurze Wüten einer Ohnmacht, die mich restlos vergessen macht. Ich könnte sonst Zeugnis ablegen von der Herrlichkeit dessen, was innerhalb des Seienden von sich selber her, ohne den Wust der Sprache, zu finden ist.
- <br/>
- Man würde, sollte ich diesen Versuch in Angriff nehmen, auch kaum mein Werkeln und Wirken auf dem heimlichen Boden der Welt, mit ihren Schleichwegen und Holzpfaden, ein zweites Mal als die Lebensleistung eines Eigenbrödlers an die nachwachsende Generation herantragen wollen. Es wäre also ohne weiteren Nutzen für die Nachwelt, wenn ich darüber sprechen könnte.
- <br/>
- Würde ich es können, würde ich es dennoch nicht tun. Und würde ich es sowohl können wie auch tun wollen, was völlig außerhalb des Wahrscheinlichen liegt, wäre es ohne weitere Wirkung. Entweder es ist gerade Mal nicht mehr oder es ist gerade Mal noch nicht an der Zeit: Das, und nichts anderes, ist das Hexeneinmaleins.
- <br/>
- Der Zusammenhang von Unvermögen, Unwillen und Wirkungslosigkeit ist wohl nur selten in einer Symphonie zu finden, die mit so einzigem Gleichklang gesegnet ist wie die vorliegende. Tenor, Bariton und Bass verblassen vor den Tönen aus der zarten Kehle einer verletzten Mädchenseele, die sich ins Unendliche mit ihrem kurzen Leid verewigt weiß (Ein unglaublich schöner Satz ist meinem Erzähler da von den Fingern auf die Tasten gesprungen, auch wenn ich ihm auf die Schnelle keine Bedeutung unterschieben kann. Er wird sie vermutlich auch nicht mehr alle haben).
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- <h2>Sechstens </h2>
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- Nach und nach verschwinden viele der unscheinbaren Kleinigkeiten. Sie haben ihre Zeit gehabt und sind nicht mehr gefragt. An ihrer Stelle, im Austausch, tauchen neue auf. Ob sie jetzt an der Zeit sind oder nicht, kann ich nicht entscheiden. Als würde eine unsichtbare Hand in meiner Domäne mit sich selber Schiffe versenken spielen, mehr kann ich nicht dazu sagen. Die Sache kommt mir suspekt vor, aber ich lasse mir das nicht anmerken.
- <br/>
- Vermutlich hängt das Verschwinden mit meinem Besucher zusammen. Da ich, wenn ich aufgeregt bin, auf ihnen lutsche, verlieren sie nach und nach ihre gediegene Form. Für ihn sind sie, einmal in einen solchen Zustand verkommen, nicht mehr zu gebrauchen. Für mich sind sie – natürlich- nicht anders, als eh und je, also ohnehin nutzlos. Manchmal, wenn er in Rage geraten möchte, hält er sie mir unter die Nase, um sich vorwurfsvoll in die Brust zu bringen. Oder zu werfen: in die Brust, wer weiß. Er hält mir wie ein Dozent der alten Schule eine packende Predigt über die Kostbarkeiten, die ich nicht zu schätzen weiß. Und über den Preis, den manch Anderer dafür bezahlen muss. Dass er sich solch armseliger Vorwürfe nicht entschlagen kann, ist mir für ihn peinlich. Er hat sich gewöhnlich im Griff und lässt der Menschenliebe, die wie durch eine Direktive in Mode gekommen scheint, freien Lauf. Nicht, dass ich ihm sein gütiges Gehabe abnehmen würde, aber um ein paar armseliger Güter wegen das gelungene Selbstbild, welches ihm das Leben süß und schmackhaft erscheinen lässt, in die Säue fahren zu lassen, wird ihn gewiss um ein paar erbauliche Stunden bringen. Ich lasse, um ihn wieder auf den Pfad der Würde schreiten zu lassen, den voll von Demut den Kopf hängen.
- <br/>
- Er besinnt sich dadurch wieder seiner tugendhaften Ideale. Dabei hält er kurz inne. Dann schleudert er mit großer Geste die abgelutschte Ausschussware in eine Tüte voll Müll, die er wie mit einem Fluch belegt nach jedem Besuch bei mir mitnehmen muss. Vermutlich um der deutlichen Rangordnung einen auch greifbaren Ausdruck zu geben. Er bringt, unter dialektischen Gesichtspunkten betrachtet, nur durch das abwegige Ritual den Fluch seiner Natur wieder auf die Höhe der Freiheit einer Vernunft, die mir fremd geblieben ist.
- <br/>
- Während einer solchen Entladung seiner Moral ist er mir aber, und dieser Eindruck muss auf jeden Fall noch auf die Schnelle ausgewischt werden, nicht wirklich böse. Nie. Nach dem kurzen Schauer einer schäbigen Leidenschaft, die ihn quält wie der Druck auf die Alpen, ist ja auch sofort wieder gutmütig und sanft, wie nur je ein Gerechter.
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- Die unsinnige Fülle der Güter bereitet anscheinend uns Beiden keine greifbare Freude. Nie. Mir sagen, ich habe das in anderen Worten schon erwähnt, die Sachen nichts. Und was noch schlimmer ist, sie lassen vor mir selber meine Ohnmacht wie ein bengalisches Feuerwerk knallen. Beständig, auf Schritt und Tritt.
- <br/>
- Er dagegen hält die Vorstellung, die er gibt, wohl eher für eine lästige Pflicht, die nun einmal getan werden muss. Entweder wird er dafür bezahlt oder er glaubt, sie der darbenden Menschheit schuldig zu sein. Sie, die Vorstellung, hat, das lässt sich nicht übersehen, auch in seinen Augen keine Aussicht auf Erfolg. Er würde sonst die schmerzhaften Wege mit Gewissheit finden, mich das Gehören zu lehren. In Fragen der Verbesserung der Menschen ist er, trotz seiner grundsätzlichen Güte, unnachgiebig wie ein Fels. Ich merke es ihm an seinen Gesten an: Ein brennendes Herz mit einer tiefen Sehnsucht nach einer geläuterten Menschheit, die sich erhoben hat.
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- <p>
- Als hätte ich eine Wahl, etwas in den Mund zu stecken, es abzulecken und zwischen die zahlreichen Lücken auf das blanke Fleisch zu schieben - oder all das eben nicht zu tun.
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- So etwas passiert einem, man wird kalt erwischt wie ein Bauer von der Dame. Er, mein Herr und Hirte in der stummen Wüste meiner steten Einsamkeit, …er weiß, dass ich mich nicht dagegen wehren kann. Und ich kann es weniger als irgendeiner: Die Wollust ward auch dem letzten Wurm wie mir noch als ein Stachel in das Fleisch der Erde mitgegeben. Wie ein schleichendes Gift.
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- <br/>
- Wahlweise könnte man sich in diesem Punkt auch kürzer fassen: Es kommt einem die Natur (Was immer das heißen soll: die Natur. Ich weiß es nicht).
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- Nicht, dass mich meine oralen Eroberungen erregen würden.
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- Von einer Befriedigung gar nicht erst zu sprechen. Mir gibt der Eros keine Freuden mehr. Wenn er es je übers Herz gebracht hat, sich an mir und meinem Genital zu versuchen.
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- Auch von einer neurotischen Entladung meiner Analfixierung durch Regression ins Nippelstadium kann ich nicht sprechen. Ich habe keinen Zwang, etwas in meinem Mund zu beherbergen. Und ich könnte Entscheidungen von der Tragweite, welchen von dem Krempel ich als Schnuller den Vorzug geben sollte, schlussendlich auch gar nicht treffen.
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- Es passiert mir, wie ein Malheur, und damit basta:
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- Ich habe, natürlich ohne zu merken wie mir geschieht, etwas in meinem Mund, bearbeite es eine Zeit lang und spucke es dann wieder aus. Auch das ohne es zu merken.
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- Wenn es etwas Essbares ist, schlucke ich es runter. Vermute ich zumindest, denn von Etwas muss sich auch das letzte Stück vom Leben noch erhalten.
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- Ein Affe im Zoo könnte sich nicht besser über die Runden bringen. Nur dass die Wärter und Besucher, die mit ihrer rosigen Zuckerwatte und verlorenen Sehnsucht Hand in Hand hinter ihrem eigen Fleisch und Blut herbummeln, ihm mehr Beifall für seine unermüdlichen Versuche im Schlund der fremdfeindlichen Ordnung schenken. Das allerdings auch nur an den Sonn- und den Feiertagen, den Rest der Erdenfrist ist auch er auf sich alleine gestellt. Ich gehöre gewiss nicht zu denen, die eine andere Kreatur um ihr bisschen Glück gehässig beneiden, obwohl ich guten Grund dazu hätte.
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- <p>
- Ein wenig Anerkennung könnte freilich mein Erzieher und Ernährer auch mir zu teil werden lassen. Ich gebe mir trotz aller Schwierigkeiten mehr als nur Mühe. Mein Bestes presse ich unter Schmerzen wie harte Köttel aus mir heraus. Und all das nur, um ihm eine Freude zu machen. Er aber kommt zur Türe rein, und noch während er mit den bedruckten Tüten von Aldi auf eine Arbeitsplatte zustürzt, um sie dort abzulegen, und vor meinen Augen den unnützen Ramsch auszupacken, gefällt er sich in langatmigem Moralisieren und Dozieren über mein unmögliches, ja beschämendes Verhalten.
- <br/>
- Der Prolog, der einem Protestanten zur Ehre gereichen würde, erfährt selten eine inhaltliche Abweichung oder eine Umgestaltung in der Abfolge: Kaum ist die Tür wieder in den Scharnieren verankert, macht mir ein kurzer Aufschrei, der aufgesetzt ist, die Scheußlichkeit meiner nudistischen Neigung deutlich. Oder er, der schrille Tonfall, soll es zumindest machen. Ich fange sofort an, in meiner nähren Umgebung mit den Griffeln ins Leere zu klauben, ob sich nicht ein Textil auftun lässt, mit dem ich meine Scham und Schande verstecken kann. Noch bevor ich einen Fortschritt in dieser Hinsicht verbuchen kann, hat der nachbürgerlich=jakobinische Tyrann seine eingeübte Begrüßung längst zu einem Ende gebracht und mir selber eine schlabberige Hose und ein Sweatshirt übergeworfen. Oder sonst etwas, das gerade in der Nähe ist. Mit geübten Griffen. Das muss ich ihm lassen.
- <br/>
- Von dem zweiten und dritten Teil der mechanischen Prozession bekomme ich wenig zu spüren, da ich, wie gesagt, nach einem Lumpen suche, eine alte Wolldecke oder ein kratzendes Leinen, der mir meine Würde zurückerstattet. Es geht, denn ich kenne den Ablauf aus dem Effeff, zweitens um den Zustand meiner „Räuberhöhle“ und drittens und abschließend um meine Körper- und Achselpflege, die wegen wechselnder Ursachen nicht dem allgemeinen Standard zu genügen scheint.
- <br/>
- Da ich weiß, worauf die Begrüßung hinausläuft, und da er weiß, dass ich es weiß, fasst er sich im Normalfall kurz. Erstens: „Oh, ne (mit langem Eh)“. Zweitens: „Wie das wieder aussieht (ohne Betonung, nur so vor sich hin)“ und drittens: „Du könntest dich aber auch mal wieder (Pause, um das Schimpf und Spott zu schlucken und dann optional: a)waschen b)rasieren c) frisieren d) etwas Anderes in dieser Richtung, was aber auf die geheimen Orte und Regungen der verlotterten Leiblichkeit zielt, und entsprechend hier nicht besprochen werden kann. Oktavvariationen in der reizlosen Trilogie der vergötzen Ideale stehen im Überfluss zur Verfügung, werden aber kaum von ihm abgerufen.
- <br/>
- Wir müssen uns dem zu folge seit mehr als einer kleinen Ewigkeit kennen: Denn ich weiß, was er sagen wird - und ich weiß, was er mit den wenigen Worten zu meinen glaubt.
- <br/>
- Ich kann mir, wie gesagt, nicht vorstellen, dass ich mir irgendetwas von einem Augenblick bis zum anderen merken kann. Doch kaum geht die Türe auf, suche ich nach einem Stück, um mich ordentlich anzuziehen. Er leidet scheinbar nicht an derselben Angst wie ich, sich bloß und ständig zu wiederholen: Mit Geduld und schlagenden Erläuterungen muss er mir die wenigen Regeln, auf die er besonderen Wert legt, im Laufe von Jahrzehnten eingetrichtert haben. Anders hätte ich den kurzen Kanon seiner klaren Vernunft unmöglich in mein zerfressenes Gerippe aus Geist und Klosterglaube aufsaugen können. Er muss also mit einem eisernen Willem versuchen, mich, wie man sagen könnte, wieder auf Vordermann zu bringen. Innerhalb gewisser und gesetzter Grenzen. Das muss ich ihm lassen (Den Willen, meine ich, muss man ihm lassen. Natürlich nicht die Grenzen).
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- <h2>Siebtens</h2>
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- Ich glaube nicht, dass er darin, mich Mores zu lehren, gescheitert ist, auch wenn es auf den ersten und unschuldigen Blick gewisser und hartnäckiger Interessen so aussehen könnte.
- <br/>
- Ich tue, was in meiner Macht steht. Mehr als mich soweit zu treiben kann keiner von ihm erwartet haben. Ein erster Schritt zurück, in Richtung der Wasserstelle, ist damit getan (und das nur dank ihm, verlieren wir das nicht aus den Augen). Dass meine begrenzten geistigen Fähigkeiten eine gelungene Anpassung an den sozialen Fortschritt verhindern, liegt nicht mehr in seiner Hand.
- <br/>
- Man könnte, wenn man einen genauso großen Haufen an guten Willen in sich trägt wie er, mir gutem Gewissen von einem Teilerfolg sprechen, der in der Zukunft seine Früchte noch tragen wird:
- <br/>
- Es ist zumindest nicht völlig undenkbar, dass ein Suchender in den kippligen Fragen der Selbsterhaltung im Dunkeln tappt und sich zu mir verirrt. Ich werde ihn, den Rat in diesen Fragen, ihm, dem Suchenden, geben können.
- <br/>
- Dafür wäre ich, um nur ein Beispiel zu geben, würde ich mich auf meinem derzeitigen Stand durchaus gewappnet fühlen. Alleine hätte ich es nie auf eine solche Stufe der Entwicklung bringen können. Von einem Scheitern der Bemühungen, die mein Mentor auf sich genommen hat, kann also keine Rede sein.
- <br/>
- Ich muss mir natürlich eingestehen, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass nach so vielen ungezählten Augenblicken ein Wanderer bei mir in meiner Höhle landet. Auf einmal und aus heiterem Himmel! Wo hätte er die ganze Zeit stecken sollen? Und wie sollte er jetzt den Weg finden? Von dem Weg, den ich einmal in dieses unbekannte Territorium gegangen sein muss, dürften auch die letzten Spuren längst aus dem Gestein verwaschen sein.
- <br/>
- Allen hieb- und stichfesten Zweifeln zum Trotz bin ich für den Fall des Falles von meinem Meister ausreichend gewappnet worden. Mit ruhiger Stimme werde ich bei meinem Morgenrot zu später Stunde dazu in der Lage sein: den letzten Rest der alten Lehre in die unbefleckten Ohren einer Nachwelt flüstern, die erst noch wachsen muss. Wie einen leisen Hauch der ersten Blüten von den Hyazinthen. Einen überwinterten Samen davon auf das unbebaute Land der Erde säen, als einen Augenblick zwischen zwei Ewigkeiten, auf einer einsamen Kreuzung (Auch ER? geht vorbei).
- Man wird die Hoffnung in der Frage nach dem Nutzen und Nachteil meiner Erhaltung also nicht grundlos aufgeben wollen.
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- <p>
- Wenn ich die passenden Worte für ein solches Manöver hätte, würde ich meinen zärtlichsten Lichtblick gerne mit ihm, meinem Gehfährten, teilen. In seinen schlimmen Stunden scheint mir der Leuchtturm seiner Lehre die Grenze seiner Zuversicht gefunden zu haben: An mir, dem stillen Kliff aus Nacht und Dunkelheit, droht er wie Strandgut zu zerbrechen. Ich lasse mich in den stillen Kammern meiner Koexistenz dann doch einmal zu so etwas wie einem ganzen Satz hinreißen:„Sein Bemühen darf nicht ganz umsonst gewesen sein“. „Das letzte Wort der Welt darf nicht „Vergebens“ sein.“ Zumindest nicht für einen wie ihn. Und sein Licht will einer wie ich ihm auch nicht nehmen.
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- Nachdem er kurz auf seinem schweren Los mit mir herum gekaut hat wie eine Kuh auf einer nimmersatten Weide, berappelt er sich aber schon wieder, noch lange bevor ich überhaupt einen Entschluss habe fassen können (Eigentlich hätte der Entschluss mich fassen müssen, am Schlafittchen, aber zu solch sprachlich- spekulativen Eskapaden scheint auch der fortgeschrittenste Erzähler nicht in der Lage zu sein. Vom Publikum, Neutrum bis ins Mark der Knochen, ganz zu schweigen).
- <br/>
- Man kann ihm dabei zusehen, es geht wie im Sekundentakt. Seine zufriedene Mine ist wieder im Einklang mit den Übeln der Welt: er plaudert und plätschert munter in dem tiefen See, den er in mir gefunden zu haben glaubt.
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- Auch ich bin wieder der Alte. Mein Verständnis für das Geschen der Außenwelt hört auf, so wie es begonnen hat: durch einen kierkegaardschen Sprung. Ich schnappe nach seinen Themen und Thesen, ohne zu wissen, worum es überhaupt auch nur geht. Ich bin mit meinen drei Anhaltspunkten, wie gesagt, vollauf zufrieden, und, ehrlich gesagt, auch damit beschäftigt, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
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- Wir haben beide, was wir wollen:
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- Ich habe geistige Nahrung. Und für meinen Geschmack mehr als genug davon.
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- Er hat eine Quelle, in die er seinen Krug noch beliebig oft senken kann, -da sie ohnehin längst leer und nutzlos geworden ist.
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- Wir wissen beide, was wir ohne einander wären.
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- <h2>Achtens </h2>
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- Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass ich das Arsenal der Bildung, die ich seinem Wirken zuschreibe, an einem anderen Ort in einer anderen Zeit geschenkt bekommen habe: Schon während der ersten Anfänge meiner Sozialisation:
- Auf den Spielplätzen hinter den gekachelten Häuserreihen wird gewiss auch heute noch der eine oder andere zu finden sein, der mit Eifer die frisch eingezeichneten Werte seinen „Spielkameraden“ (was für ein selten abscheuliches Wort hat sich denn da eingeschlichen) tief in den Fels zu brennen. Die angeborenen Sperren: scheu und schüchtern gegen die Härten noch jeder Gruppe, Vorsicht gegen den plumpen Optimismus der Biertische und vieles andere Störende werden in zahllosen Bräuchen wie von blinder Wut zu Brei geschlagen. Und, auch darin zeigt sich die Weisheit der natürlichen Entwicklung, zu guter letzt dadurch überwunden. Der Grundstein für das Ende der regellosen Eigenbrötelei und die Festigkeit eines entschlossenen Ich wird so -und nur so! - gelegt.
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- <p>
- Es ist natürlicher viel weniger als unwahrscheinlich, dass sich der volle Erfolg dieses notwendigen und gesunden Schema, das muntere Schwimmen im Strom des vertrauten sprachlichen Gefüges, erst in einem institutionalisierten pädagogischen Komplex hat durchsetzen können. Die genialen Begabungen, welche ein nicht kleiner Teil der heranwachsenden Generation sich dem Ansatz nach schon im Elternhaus zu eigen machen durfte, können ihre ganze Furcht und ihren ganzen Schrecken nur durch die professionelle Anleitung einer amtlichen Autorität systematisch zum Ausdruck bringen. Bis in das Antlitz des Anderen hinein, der hinter dieser Schwelle nicht mehr sich zu fragen traut: nach Schonung wenigstens der grauen Asche dessen, was er vor diesem Fest einmal gewesen war.
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- Vielleicht war man sogar gezwungen, die Rute gegen mich zu schwingen. Oder noch schlimmeres: In der Ecke.
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- Es ist sogar wahrscheinlich, dass es bei passenden Gelegenheiten zu disziplinarischen Maßnahmen gekommen ist, denn ich muss schon immer schwer von Begriff gewesen sein: Kein Geist kann im sich im Handumdrehen völlig verkümmern lassen.
- Man hat sich sicher nicht gescheut eine Last, die keinem leicht von der Hand geht, als ein Opfer auf sich zu nehmen, wenn auch unter schweren inneren Kämpfen und Konflikten. Und das nur zu einem Zweck: mir eine Zukunft in der Mitte der gelungenen Menschen zu sichern. Natürlich anders herum betrachtet auch, um in mir als dem Objekt die Zukunft selber zu sichern. Aber wer will das auf welcher Grundlage auseinanderdividieren? Und zu welchem Zweck.
- <br/>
- Man hat mir, so oder so betrachtet, die Möglichkeit gegeben, das zu sein, was ich heute bin: in der Lage zu bersten vor Begabung, die sich den wechselhaften Umständen ohne Widerstände und nutzlose Umwege durch das eigensüchtige Ich anpassen kann.
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- Oder mit besseren Worten: was ich sein sollte. Denn ich habe es, wie ich heue weiß, vollständig vermurkst.
- Vermutlich bin ich im ersten Sturm und Drang der Jugend unsolide mit den Schätzen, die man mir in Sorge anvertraut hat, umgegangen. Zuzutrauen wäre es mir, wie jedem anderen Heißsporn auch, zumindest theoretisch. Den größten Teil davon muss ich sinnlos in dem Schlund der schlechtesten Neigungen geschleudert haben. Der schäbige Rest von dem Rotz, der mich noch heute in den Tiefen meiner Eingeweide schüttelt, kann dem großen Strom der ursprünglichen Lehre wohl kaum die Stange halten.
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- Ich hätte meinem Land, seinen Lieben und Leuten, mit meinem Wissen dienen können.
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- Und, als eine moralische Pflicht, auch sollen und müssen.
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- Aber ich musste mein Schicksal, wie man so sagt, herausfordern. Vermutlich wird man mich sogar vor den Folgen gewarnt haben. Eindringlich und mit nicht wenig Wohlwollen um mein Bestes bemüht: Als einen schmutzig schwarzen Mann hat man mir meine Zukunft in wenig schönen Farben an die gegenüberliegende Wand gemalt. Ich habe, wie das bei manchem Kind zu Tage tritt, darauf nicht hören wollen.
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- Hätte ich es getan und rechtzeitig ein reuiges Geständnis abgelegt, wäre ich wahrscheinlich wieder in die Reihe meiner Ur-Ahnen aufgenommen worden. Ich werde wohl nicht gewusst haben, welches Geständnis man von mir verlangt hätte, um die Angelegenheit in Wohlwollen sich auflösen zu lassen. Ich hätte mich wieder unterworfen, ich hätte jeden Kontrakt unterschrieben, ich hätte keinerlei Zugeständnisse an meine Position und bloß ahnungslose Meinung verlangt, aber ich bin nicht auf die richtigen Worte gekommen. Und genauso wenig hat man mir, etwa aus einem erzieherischen Impuls heraus, gesagt, welches Geständnis ich abzuliefern gehabt hätte. Um das reinigende Ritual mit Erfolg zu vollstrecken hätte ich aus eigenem Antrieb ein Einsehen in mein unmögliches Verhalten an den Tag legen müssen. Ein erster und behutsamer Anfang wäre so gemacht gewesen, um den Streit zu einem Ende zu bringen. Ich hätte mir die passenden Worte wahrscheinlich notieren sollen, als ich die Zeit dafür noch gehabt habe.
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- Einmal von den Meinen verflucht und fortgejagt, habe ich mich und meine Freiheit wie ein kurzes Wachen zwischen zwei Alpträumen zu schmecken bekommen: Nachdem ich mit ihnen gebrochen habe, habe ich über kurz und lang auch mit mir, als dem gefallenen Ebenbild der Bruderschaft brechen müssen. Bis ich schließlich mich selber und die Erinnerung an mich als einen Teil des Ganzen vergessen habe.
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- Ohne Zweifel wäre es für mein Fortkommen in der Fremde besser gewesen, wenn ich mir die zumindest die Einflüsse der Bruderschaft warm gehalten hätte.
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- Geblieben zu sein scheint mir lediglich die dreifaltige Lehre von den Übeln der Materie und der Verderbtheit der leiblichen Wesen. Sie ist mir wie ein Brandmal in das Mark meiner Knochen gezeichnet worden. Unauslöschbar hat sie an jenem Un-Ort dort (gleichwie im Kubus der Mykene) und virengleich geschlummert:
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- Die Scham und Schuld bei sich, ein Stückchen Seife und ein Stück von Abbild einer großen Ordnung Der Rest ergibt sich, eine gehörige Portion guten Willen vorausgesetzt, wie von alleine.
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- In dem Gedankenspiel (und zu mehr kann das alles bei meiner Lage nicht herhalten) hätte mein treuer Begleiter meine besten Anlagen, als er mich gefunden hat, bloß wieder von ihrem trostlosen Schattendasein an die Oberfläche geholt: Sozusagen hätte er meine glimmenden Ressourcen in der Asche gewittert, sie in ihrem Schlupfwinkel aufgestöbert und mit nicht wenig Mühe verstanden, sie zu neuem Leben zu entfachen.
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- Aber selbst wenn es sich so verhalten sollte. Wenn er sich nicht als der eigentliche + erste Initiator meiner Menschlichkeit und Würde bewahrheiten ließe: Er hat mich in diesem Fall zumindest aus dem verstrickten Unterholz auf den ausgetretenen Trampelpfad der bewährten Traditionen zurückgeführt. Und nur er hat es verstanden und keiner von jenen, denen ich zuvor in die Arme gelaufen sein muss. Im Unwegsamen.
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- Von daher bin ich ihm in jedem Fall zu unendlichem Dank verpflichtet, auch wenn der erste Anfang meiner Entwicklung nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Nichts und niemand hätte ihn dazu zwingen können, sich meiner anzunehmen. Manch Anderer hätte mich im Straßengraben verrotten lassen. Er ist, in gewisser Weise, der Urheber und Schöpfer meiner jetzigen Existenz.
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- Die bloß theoretischen Überlegungen über meine Herkunft, die, am Rande bemerkt, auch gar keinem praktischen Nutzen dienlich sein können, werden sein Ansehen, so oder so betrachtet, nicht schmälern können.
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- Umso beschämender ist es für mich, dass ich nicht mit mehr aufwarten kann, als das, was ich geworden bin. Mein dumpfes Wissen, das ich nicht einmal in Worte fassen kann, ist fast noch weniger wert als nichts. Ich würde ihm gerne die Freude machen, seinen christlichen Taten einige Worte der Anerkennung und des Dankes folgen zu lassen. Aber nicht einmal dafür reichen, auch wenn ich das schon mehrfach gesagt habe und mich nicht gerne wiederhole, meine Fähigkeiten nun einmal nicht aus:
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- <br/>
- Wie soll ich einen Raum in Ordnung halten, den ich nicht einmal überblicken kann. Wie soll ich Kleidung finden, wenn ich nach wenigen, kriechenden Bewegungen in eine bleierne Ohnmacht falle? Wie soll ich mich waschen, wenn ich nicht weiß, wo ich das Waschbecken und die Seife finden kann? Und, um den Kreis wieder zu schließen, wie soll ich mich mit Worten an ihn wenden, wenn ich nicht sprechen kann?
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- Ich weiß, wie gesagt, nichts von gestern, oder auch nur von dem Augenblick, der gerade vergangen ist.
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- Was in meinen Lehr- und Wanderjahren vor sich gegangen ist, bleibt in der Vergessenheit. Von meinem Lehrer weiß ich nicht mehr, als was die Gegenwart mir vor die Augen stellt: dass er mir Essen, Trinken und Spielzeug bringt, dass er mir Vorträge über die Hygiene und andere Fragen hält, von denen noch weniger verstehe, und dass er letztlich einen festen Glauben und einen gesunden Schlaf haben muss ( Beides hindert ihn daran, schätze ich, bei der Erledigung seiner Aufgaben die getragene Ruhe zu verlieren).
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- Von meinen starren Stunden gibt es ohnehin nicht viel zu erzählen, und ein Gewusstes ist es schon gar nicht.
- Die Frage nach meinen Erziehern lässt sich, um den fruchtlosen Komplex jetzt zu seinem Ende zu bringen, nicht mehr klären.
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- Wahrscheinlich ist es sogar eines der Erziehungsziele gewesen, die Erinnerung an jene Jahre in mir auszulöschen. Ich male mir aus, dass der ausgefeilte Gedanke, das grundlegende Konzept oder der vorauseilend=besorgte Grundriss dahinter der folgende sein könnte: Die Erinnerung an ein Geschehenes würde jeden Zögling in ganz unnötige Aufregung setzen. Schon die vagen Vermutungen, die ich mir hier und da einmal gönne, lassen mich meine vorrangigen Zwecke in der Gegenwart völlig aus den Augen verlieren. Wie sollte es da erst zugehen, wenn ich eine klare Vorstellung von den wirklichen Vorkommnissen haben würde? Der unbedingte Realismus, das Aufgehen in den praktischen Zwecken der Gegenwart, ist, so betrachtet, von langer Hand als eine starke Wurzel herangezogen worden. Alles unnütze Unkraut, um im Bild zu bleiben, ist von vornherein im Keim erstickt worden. Und tatsächlich werde ich von Dingen, die einmal überholt sind, nicht weiter belästigt.
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- Der Plan ist voll und ganz aufgegangen, denn das Verfahren hat seine Wirkung nicht verfehlt: Das einzige Wissen, das ich wirklich in der Tasche habe, ist, dass ich mich an nichts, und auch nicht an die Kleinigkeiten der vergangenen Gegenwart mehr erinnern kann.
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- Jeder andere würde sich, mit dieser Gabe ausgestattet, den Aufgaben, die er zu bewältigen hat, mühelos stellen können. Dass ich mich, von jeher kränkelnd und von schwacher Natur, kaum auf den Beinen halten kann, wird niemand meinen Ausbildern vorwerfen wollen. Ich habe die reine Gegenwart als ein Geschenk bekommen, man hat mich zu etwas Großem auserkoren -und ich war schlichtweg zu beschränkt und ungeschickt, um damit etwas anfangen zu können (Ich kann nur hoffen, dass bei der Auswahl der restlichen Absolventen eine weisere Hand die Feder geführt hat). Meine ursprünglichen Meister sind jetzt aber, so vermute ich zumindest, mit ihren akuten Aufträgen beschäftigt. Die Zeit für eine Reflexion im Hinblick auf Scheitern und Gelingen von Projekten, die ohnehin schon abgeschlossen sind, können sie sich nicht nehmen (Wofür auch immer sie überhaupt gut sein könnte).
- <br/>
- Den weiteren Werdegang der Adepten zu überwachen liegt bei anderen Instanzen: ihre wachsamen Augen ruhen nie, auch wenn niemand sie je bei der Arbeit zu beobachten vermag …
- <br/>
- …-
- <br/>
- Ich verliere mich (schon wieder und wie so oft in letzter Zeit) in unnütze und dumme Gedanken. Ich werde mich ein wenig ausruhen müssen, um das Wesentliche, die Gegenwart, nicht weiter aus den Augen zu verlieren.
- </p>
- <h2>Neuntens</h2>
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- Aber der Hohlraum metaphysischer Fragen, der mich gerade eben zu einem kurzen Moment der Unachtsamkeit verführt hat, kann mir heute keinen Schaden mehr zufügen. Denn das Tabu, welches man mir in mit maschinischen Salven und monotonem Tonfall in mein Trommelfell gebläut hat, greift mit der zwangsläufigen Notwendigkeit a-thomistischer Uhren.
- <br/>
- (Also, um das a-thomistisch in seiner schräglichen Schreibweise kurz zu erklären: die glanzlose Gegenwart aus Atomzeitalter und dem abgelebten Altar der Religion wird mit Gewalt und ohne Erbarmen in ein und dasselbe Wesen gesetzt. Auf dem Altar ist, wenn man die Assoziation auf die Spitze treiben möchte, die Individualität geopfert worden. Es ist nämlich nicht so, dass Änderungen in der gängigen Schreibweise einzig aus Jux und Dollerei, also in phonetischer Willkür an die verbliebene Leserschaft gebracht werden sollen. Der Verfasser, dem noch ein „frenetischer Jubel“ durch die Synapsen geistert, den er aber nicht mehr unterzubringen in der Lage und Laune ist).
- <br/>
- Und ihr Griff reißt mich zurück in die Zwecke & Dienste der reinen Gegenwart, noch lange bevor ich mich aus freiem Willen und vernünftigen Gründen heraus dazu entschließen kann. Wie ein glückliches Mitbringsel aus meiner perfekten Vergangenheit, ein Totem und Talisman, bewahrt es mich vor den unfruchtbaren Marotten der Metaphysik und ihrer traurig zerschlagenen Monumente.
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- Die Kontrolle erwischt mich, sollte ich mich in dieser Hinsicht einmal vergessen, schon auf einer der unteren Stufen der Leiter des bewussten Lebens: der körperlich-leiblichen. Die Muskeln, wenn man bei mir noch davon sprechen kann, werden müde und schwerfällig wie Quecksilber.
- <br/>
- Ich sacke sofort weg.
- <br/>
- Folglich brauche ich mich nicht zusammenzureißen, um mich nicht zu verlieren…:
- <br/>
- „Woher ich komme?“ „Wohin ich gehe?“, wohin soll so fauler Zauber in der Kunst der Frage führen? : Wie ein Regenwurm, der sich in seinem Refugium Gedanken über seine Kriechgänge und Kreuzzüge durch das Erdreich macht. Als wäre auf den unterirdischen Wegen der Rhetorik etwas Endgültiges über die Frage auszumachen, wer oder was ich letzten Restes bin.
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- Ich bin gewesen,
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- ich werde sein
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- und ich bin glücklich.
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- Immer.
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- Über mehr brauche ich mir keine Meinung zu bilden.
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- „Und, Nadir, was hast du in den Tagen seit unserem letzten Treffen so alles getrieben?“
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- Ich bin wieder zu mir gekommen, als oder weil er mich auf die Couch gehievt hat. Nicht ohne unter meinen paar verbliebenen Pfunden ordentlich zu schnaufen. (Er? Er wird wohl Pet oder Peeko heißen. Oder so: Namen, die zu ihm passen würden. Wenn sein richtiger Name nicht dabei ist, wird er sich im Laufe der Jahre daran gewöhnen. – Müssen. Die seltsame erste Ahnung, die ihn wie einen Angsthasen in seinem Bau aufspürt, wird ihm, wenn er den Namen oft genug gehört hat, nach und nach vergehen. Ich kann ihm das aus eigener Erfahrung versichern: Man gewöhnt sich daran)
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- Grundlos fällt mir, während er noch nach Luft schnappt, sein Anblick in die Augen. Er trägt ein hellbraunes Cord-Sakko mit dunkelbraunen Armschonern, einen unauffälligen Pullunder und eine Markenjeans, die seinen prangenden Lappen nicht völlig verschwinden lässt. Eigentlich bringt sie seine Form erst vollends zur Geltung. Wahrscheinlich nicht ohne Absicht.
- Ich will mich, wie gesagt, nicht in nutzlosen Spekulationen verlieren. Ich kann mir das, auch wie gesagt, gesundheitlich gar nicht erlauben. Aber sein Äußeres lässt, so denke ich, auf nicht ganz unwahrscheinliche Rückschlüsse auf seine Funktion und Rolle in der äußeren Welt schließen:
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- Das Cord-Sakko von der Stange wäre für einen Lehrer und andere Leisetreter mit mittelmäßigem Gehalt schlichtweg und schlechterdings viel zu verwaschen. Und auch seine verbogene Nickel-Brille spricht eher für einen Beruf, der keine Konzessionen an die standardisierten Vorstellungen über eine ordentliche Kleidung zu machen braucht. Ich will nicht die schäbigen Vorurteile der mittelmäßigen Viehherde aus den unteren Regionen er verwalteten Wirklichkeit mitblöken, aber einen entpflichteten Professor der Philologie könnte er mir seinem geschmacklosen Äußeren mühelos zur Schau stellen. Nicht einmal den witzlosen Schnurrbart der Gründerjahre kann er sich verkneifen, ohne den für ein Bahnen brechendes Monstrum den nötigen Mumm in den taktlos zur Schau gestellten Tentakeln zu haben scheint.
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- Alles in allem, und ich habe bei weitem noch nicht von allem zu berichten begonnen, muss und möchte ich ihn materiell irgendwo im Mittelstand ansiedeln, ohne ihm einen Beruf zu wünschen, der die Eingliederung auch der letzten Reste an Innerlichkeit zu einer Notwendigkeit macht. Ein Stückchen verworrene Eigenbrötelei, ja verschrobenes „In sich gekehrt“ sein ist unverkennbar. Anders wäre sein „Mit sich und der Welt im Reinen sein“ auch nicht zu erklären.
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- Da ich der sinnlichen Wahrnehmung noch nicht ganz gewachsen bin, murmele ich einige von den Laute vor mich hin, die mir besonders häufig durch Kopf geistern. Es ist gut, sich an das zu halten, was man kennt, wenn der Boden unter den Füssen schwankt und alles um uns herum wackelt. Ohne dass ich mir meiner Meditation bewusst bin, scheint er in dem verhexten Einmaleins meiner sinnlosen Silben eine Antwort auf seine Frage verstehen zu können:
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- „Radiosendung, Berichte, in der langen Nacht, Hörspiel von Träumen, Preis der Kriegsblinden, Kinder, Termiten, Eisenbahnwaggon…“
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- Vor Freude über meinen Sprung in die Sprache schlägt er in die Hände und muss lachen. Dann legt er mir seine Hand auf das Knie. Und sie zittert. Er muss wohl mit seinen Gefühlen kämpfen, wahrscheinlich weil - in seinen vertränten Augen - der Tag meiner Erlösung durch mein Gebrabbel, das von ungefähr auf seine rhetorische Frage zu passen scheint, ein gutes Stück näher gerückt ist. Als würde sich bei allem, was gesprochen wird, auch etwas denken lassen (Ich sollte ihn im Stillen vielleicht doch besser Famulus taufen).
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- Obwohl ich nicht davon zu überzeugen bin, das ich etwas Sinnvolles von mir gegeben und ihn also verstanden haben soll, kommt mir die ganze Situation suspekt vor.
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- Ich verliere ich den letzten Rest meiner reservierten Haltung und meine Hand findet den Weg auf die seine. Beide Glieder mit ein und demselben Wort zu benennen ist natürlich ein starkes Stück, auch wenn ich es als eine Notlösung an den Mann bringen würde. Meine angefressenen Fingernägel krallen sich mit dem schmalzigen Dreck unter den Rändern in den Rücken einer seiner beiden bestrickend schönen Schniepel, die er problemlos bei jedem Kaffeeklatsch über den Tisch gleiten lassen kann, ohne damit Anstoß bei den Damen zu erregen. Er ist aber so außer sich… wenn er nicht gerade jetzt bei sich ist… dass ihn weder der stechende Schmerz noch der widerliche Anblick meiner Pranke noch die Angst vor einer Infektion wieder zu seinem vollen Verstand bringen kann. Die Angst vor einer Infektion wäre vermutlich alles andere als unwahrscheinlich. Trotzdem bleibt mir eine Lektion über den unbedingten Wert der Körperpflege also, um die Sache jetzt endlich auf den Punkt zu bringen, erspart. Hätte ich das geahnt, hätte ich schon öfters ein Lebenszeichen von mir geben können.
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- Auch wenn ich mich nicht gerne wiederhole, muss ich noch ein zweites Mal darauf hinweisen, dass seine Hand auf meinem Knie liegt. Von daher merke ich, als ich meine Hand freundschaftlich auf seine lege, keinen großen Unterschied. Ich meine damit, dass ich so tun kann, als könnte ich keinen Unterschied bemerken, aber der Satz wäre dann zu umständlich geraten. Für meinen Freund, denn er wird von nun ab in meinem Register der Dinge als ein Freund seinen Platz finden, ist der Bann gebrochen: Die Tränen fluten auf sein angeschlagenes Gesicht und waschen die Sorgen, die ihm ins Antlitz gewachsen sind, in einem einzigen Strom unter sich fort. Zumindest für die wenigen Sekunden, in denen er nicht mehr sein eigener Herr zu sein scheint.
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- Auch er weiß, dass die Sprache hier, wo alles tönt und schauert, versagt: Und er schweigt. Wir sitzen noch eine Weile zusammen, bis er genügend Mut gesammelt hat, mich kurz umarmt, mir ein paar aufmunternde Klapse auf die Schulter verpasst und dann zügig die Szene verlässt: „Bis dann, Nadir.“ Noch während er den Abschied abrundet, indem er sich von mit weg dreht, schiebt er mir unmerklich einen kleinen Zettel zu. Er blickt mich unverwandt an, während er spricht, blickt und sich dreht, und der Ausdruck in seinen Augen lässt meine Seele schaudern und die Säule meiner Wirbel schlottern.
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- Da ich nicht zu glauben weiß, was es mit dem Stück Papier auf sich hat, was er von mir damit verlangt, gehe ich in der gewohnten Manier vor, stecke das Stück in meinen Mund und presse es, nachdem es sich in meinem Speichel aufgelöst hat, in einem Schluck herunter.
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- Nach einer kurzen Weile schlage ich ein wenig Wasser ab, bevor ich mich wieder auf den Boden sacken lasse. Die großen Ströme, die eine Schüssel und eine Wasserspülung erfordern, hat meine Wenigkeit hinter sich. Ich lasse die braungelbe Brühe zwischen meine Schenkeln sickern, genieße den juckenden Reiz, den die beißenden Tropfen beim Trocknen auf meiner verlederten Haut auslösen und genieße für einen Augenblick das Gefühl von saftigem Leben, den das kleine Erlebnis in mir zum tragen bringt (Es hat vielleicht nicht jeder Verständnis für das Entzücken, welches eine Lappalie dieser Art in meiner inneren Sphäre hervorruft, aber, ich bitte sich das vor die Augen zu halten, es ist alles eine Frage der Maßstäbe)
- Ich will das Schicksal nicht unnötig herausfordern: Es hat mir heute mehr als einen Finger angeboten, und ich will nicht gleich nach der ganzen Hand schnappen. Denn an den großen menschlichen Gefühlen kann, wie jeder ahnt, man auf die Dauer leicht zu Grunde gehen (auch wenn er nicht plemplem wie Paulus der bekloppte Starr- und Sturkopf ist. Aus dem antiken Folianten über die persönliche Verfehlung vor der Schöpfung). Ich ziehe mich also, um mich wieder an der kurzen Leine zu fassen, in meine gewohnte Umgebung zurück, um wieder zu mir oder wahlweise (also gekupfert=beckettisch) um wieder von mir zu kommen. Mit anderen und nicht weniger unbedeutenden Worten lasse ich mich zurück auf den Fußboden gleiten (Sie, die letzten paar Worte, sind nicht weniger unbedeutend als die Worte, dass ich mich auf den Boden sacken lasse, und ich wieder hole mich, wie gesagt, nicht gerne.
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- <h2>Zehntens</h2>
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- Ich denke, wenn man das Denken nennen kann, ich habe jetzt mehr als genug, also über die Maßen, auf dem Kalauer von der Körperpflege und dem ganzen Quatsch geritten. Anstatt es einmal richtig krachen zu lassen, im Bereich der Leiber, wird die alte Leier von der Verderbtheit der menschlichen Säfte in den letzten Jahren wieder vollends aufgewärmt. Dem allgemeinen Standard zu entsprechen verbietet mir aber nicht, wie man unter Umständen vermuten könnte, mein guter Geschmack, sondern vielmehr gewisse Deformationen meiner verhaltensgestörten Konstitution. Das Kapitel wird jetzt, wie gesagt, zur Seite geschoben, denn wer seine Zeit dafür veranschlagt hat, den Odem der Säfte systematisch in Schach zu halten, dem fehlt es schlicht an Muße für die schweißtreibende Turnübung an Grund und Reck verbauter Reden.
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